Das fliegende Klassenzimmer |
Text von Michael Furmanek, aus HörZu Heft 28, 09.07.1999. Fotos: Wolfgang Sauer Acht gelb umrandete, weit geöffnete Schnäbel recken sich in die Höhe. Wie auf Kommando stimmt der Küken-Chor ein erbärmliches Gepiepe an, und jeder Sänger drängelt und tritt um sich, dass die Federn fliegen - Fütterung bei Familie Kohlmeise. Wenn Mutter oder Vater Meise mit gespicktem Schnabel im Nest auftaucht, will
eben jeder der erste am Futtertrog sein und den dicksten Happen erhaschen. Gelegentlich
scheint die Gier sogar grösser zu sein als der Schlund, wenn ein besonders dicker Brocken
- eine Wiesenschnake oder Schmetterlingsraupe - noch minutenlang aus dem Halse hängt und
die Jung-Meise zu ersticken droht. Doch der Schein trügt, und am Ende rutscht alles runter
- und das ist allein in den knapp drei Wochen vom Schlupf bis zum Ausfliegen eine ganze Menge.
Biologen haben ausgerechnet, dass ein Meisen-Pärchen pro Tag gut und gern 900 Schnabelhappen
abliefern muss, um die Brut satt zu kriegen. Macht übers Jahr immerhin 30 Kilogramm Mücken,
Fliegen, Larven, Raupen, Blattläuse und andere Insekten, die ansonsten Kleingärtner ärgern.
Die Brut beginnt erst, wenn das letzte Ei gelegt ist, vorher wird das Gelege zum Schutz vor Auskühlung mit Nestmaterial zugedeckt. 14 Tage lang brütet sie und wird während dieser Zeit von ihrer besseren Hälfte mit Futter versorgt. Allerdings sitzt das Meisen-Weibchen nicht nur faul auf den Eiern und lässt sich verwöhnen, sondern betätigt sich fast rund um die Uhr als Putzfrau und beseitigt Ungeziefer, das sich in fast allen Vogelnestern breitmacht. Akribisch pickt sie Flöhe, Milben und andere Prasiten weg, die den späteren Nachwuchs schwächen und krank machen könnten. Nach dem Schlüpfen, wenn Mutter Meise tagsüber futtersuchend auf Achse ist, erledigt sie ihren Kammerjäger-Job während der Nachtstunden. Richtig zur Ruhe kommt sie selten. Nach rund drei Wochen fliegt die ganze Rasselbande ins Freie. Wie bei einem Schulausflug folgt das "fliegende Klassenzimmer" den Alten und bettelt noch bis zu vier Wochen lang um Futter. Unterricht gibt es nebenbei auch, in dem der Nachwuchs erfährt, hinter welcher Baumrinde oder auf welcher Pflanze sich die besten Leckerbissen verstecken. Das ist lebenswichtig. Denn nach diesen Lektionen drängen die Alttiere ihren Nachwuchs vehement ins eigene Leben, zur Not auch mit ein paar Schnabelhieben. In guten Sommern kann ein Kohlmeisen-Weibchen in mehreren Brüten bis zu zwei Dutzend Nachkommen aufziehen. Wenn dann noch ein milder Winter folgt und viele Jungvögel überleben, drohen Überbevölkerung und Hunger. Doch Not macht bekanntlich erfinderisch. In England hatten Meisen gelernt, die Alu-Deckel der vor den Haustüren abgestellten Milchflaschen aufzupicken und den Rahm zu schlürfen. Diese Nahrungsquelle ist mittlerweile versiegt, weil englische Hausfrauen ihre Milch seit einigen Jahren fast nur noch im Supermarkt kaufen. Aber den pfiffigen Piepmätzen fällt ganz sicher etwas Neues ein. |